Sven Hamann

Architekturfotografieprojekt eigthy.photos | weltweit

Architekturfotografie

Der folgende einführende Text stammt von Dr. Simone Kraft M.A., Kunst - und Architekturhistorikerin:


Den Blick für Architektur schärfen:

Abstraktion durch Extraktion

Architektur prägt unseren Alltag wie kaum etwas anderes. Einen Großteil unseres Lebens verbringen wir in gebauten Räumen – und nehmen dennoch die alltäglichen Bauten um uns nur selten bewusst wahr. Während eine andere „Hülle“, mit der wir uns täglich umgeben, die Kleidung, uns in Form von Mode sehr stark beschäftigt, erfährt unsere architektonische „Hülle“ kaum Aufmerksamkeit. Allenfalls ungewöhnliche Gebäude aus vergangenen Zeiten oder extravagante moderne Bauten werden bemerkt. Die funktionalen Nutzbauten jedoch, denen wir tagtäglich begegnen, seien es Büros, Wohngebäude, Werkhallen, werden nicht beachtet. Zu Unrecht, denn Architektur gestaltet nicht nur unser räumliches Lebensumfeld – nicht umsonst spricht man von Lebens-Raum –, sondern formt auch unsere kulturelle und historische Identität wesentlich mit. Schon dadurch ergibt sich der zwingende Bedarf, sich intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen. Sven Hamann hat sich zum Ziel gemacht, mit künstlerischen Mitteln das Bewusstsein für Architektur zu wecken und eine intensivere Auseinandersetzung mit ihr zu erreichen. Der Künstler, als studierter Architekt eng mit der Kunst des Bauens vertraut, will, so sagt er selbst, „die Menschen für das Thema der Architektur sensibilisieren und den Blick des Betrachters für Architektur schärfen”.

Mit Fotografien und Malerei nähert sich Hamann dieser Zielsetzung an. Seine Arbeiten zeigen Fassadenausschnitte, Nahansichten der Bauhülle von meist seriellen Zweckbauten, wie man sie überall antrifft. Die Gebäude werden auf eine Fläche reduziert. Die Fassadenansichten werden in doppelter Weise aus ihrem Kontext – sowohl aus demarchitektonischen Verband des Gebäudes als auch aus dem umgebenden Standort – gelöst, „extrahiert“, und dadurch aus ihrem üblichen Wahrnehmungszusammenhang herausgelöst, „abstrahiert“. Störende und narrative Elemente werden mit digitaler Bildbearbeitung entfernt, ohne jedoch die Spuren des Alltags wie Spiegelungen in den Scheiben, hinter dem Glas sichtbare Möbel oder die Zeichen des Alters der Fassade zu beseitigen und das Gebäude damit zu idealisieren. Die Fotografien konzentrieren den Blick des Betrachters auf die architektonische Hülle, die Fassade, wie sie überall begegnen kann. Die so entstandenen Fassaden-Bilder bieten einen überraschend ästhetischen Anblick, den man beim flüchtigen Betrachten eines Gebäudes kaum wahrnimmt. Der Fokus auf die äußere Hülle der Architektur zeigt Detailaufnahmen von Fenster- und Fassadenrasterungen, die in ihrer geometrischen Anordnung einen eigenen Rhythmus entwickeln und an den niederländischen de Stijl oder auch an minimalistische Arbeiten erinnern.

Für den linearperspektivisch geschulten Betrachter, der mit Hilfe von Fluchtlinien zweidimensional verzerrte Abbildungen räumlich „sieht“, eine ungewohnte Ansicht: Da der Blick sich nicht auf einen Fluchtpunkt stützen kann, um das Gebäude als perspektivisches Ganzes zu erfassen, ist er „gezwungen“, genauer hinzuschauen. Er entdeckt ganz neue Ansichten, Einsichten der Fassade. Tatsächlich setzt Hamann die gewohnte perspektivische Darstellung von Räumlichkeit nicht außer Kraft. Vielmehr fokussiert er so stark, dass ein „flacher“ Bildausschnitt des Gebäudes präsentiert wird. Dies ist kein Verfremden oder Verzerren des Gewohnten im eigentlichen Sinne, sondern ein Sich-Konzentrieren aufs Detail, ein „Zwingen“ des Blicks zu einer anderen Sichtweise. Der Künstler spielt mit der Wahrnehmung des Betrachters, um gewohnte Seh-Muster zu durchbrechen und den Blick auf Neues zu lenken. So schärft er das Bewusstsein für Architektur.

In den Gemälden wird dies noch weitergeführt: Aus mehreren Schichten baut Hamann mit Sand, Zement und Leim architektonische Gebilde auf, die eine stark haptische Oberfläche haben. Wie reale Bauten werden sie aufgeschichtet, zusammengefügt, wieder freigelegt, stellenweise aufgeklopft, abgekratzt, mit Seilen verbunden oder überklebt. Für den Künstler ist es wichtig, mit Materialien zu arbeiten, die einen starken Bezug zur praktischen Architektur haben.

Dabei sind Hamanns Malereien nicht schlicht Kopien der fotografierten Fassaden mit einer anderen Technik. Vielmehr abstrahiert der Künstler Inspirationen und Beobachtungen, die er beim Fotografieren der Bauhüllen gewonnen hat, und setzt sie mit dem Medium der Malerei um. Dies hat nicht zuletzt auch formale Gründe – Proportionen, Material, Farbe, Geometrie –, die eine andere Annäherung, ein neues Erleben der Fassaden-Architektur ermöglichen.

Zwar sind nach wie vor zweidimensionale architektonische Ansichten zu sehen, die an abstrahierte Fassaden und Bauansichten erinnern, sie entwickeln jedoch in ihrer Materialität eine reliefhafte Tiefe. Während der Blick bei den Fotografien noch ganz auf die aus dem Gebäudeverband extrahierte und dadurch abstrahierte Fassadenfläche reduziert wurde, gewinnen die gemalten Bauhüllen plastische Struktur hinzu. Die Fläche wird zum Volumen – freilich nicht wieder zum perspektivisch erfassbaren Raum. Die Bau-Hülle wird in ihrer Materialhaftigkeit und Plastizität erfahrbar und erlebbar. Dadurch kann der Blick weiter vordringen und buchstäblich in die Fassade eindringen: Was ist Fassade? Was liegt in, hinter der gebauten Fassade? Die architektonische Hülle verhüllt, verkleidet, versteckt, schützt... Der Blick hinter die Fassade des Gebäudes, hinter die Hülle der Architektur und damit letztendlich auch hinter die Fassaden der Menschen und der Gesellschaft, die „dahinter“ lebt, ist es, dem Sven Hamanns Arbeiten nachspüren.

Dem Betrachter begegnet eine ungewohnte Inszenierung von Architektur, die es ihm möglich macht, gewohnte Blickrichtungen zu verlassen und neue Seiten an seiner gebauten Umgebung zu entdecken – sein Blick für Architektur wird geschärft.